Kuhreihen 2020 – Lokales Phänomen und traditionelles Ritual

2020 – Darf er oder darf er nicht, der Kuhreihen

Den Villinger Herter mit Münster und Tortürmen zeigt der Holzschnitt eines unbekannten Künstlers.

Er gilt seit alters her als einer der eindrucksvollsten Weihnachtsbräuche in der Stadt, der Villinger Kuhreihen. Ein Ereignis, bei dem die Stadtmusik am Heiligen Abend nach der Christmette mehrfach in der Innenstadt zwei traditionelle Weihnachtsweisen spielt und einer ihrer Musiker auf dem Herterhorn die Melodie des Kuhreihens bläst. Ein stimmungsvolles Schauspiel, das der Überlieferung nach erstmals im Jahr 1765 zelebriert wurde.

Doch in diesem Jahr 2020 wird es wohl bei der Erinnerung an die Vorjahre bleiben.

Denn noch ist nicht entschieden, ob die Stadtmusiker auch dieses Mal gegen  23 Uhr am Amtsgericht, dann am Riettor, am Oberen Tor und am Bickentor und schließlich auch nicht kurz vor Mitternacht auf dem Marktplatz den Kuhreihen zelebrieren dürfen.

Der Ablauf während einer guten Stunde ist wohl den Corona-Auflagen zu opfern, damit beim eigentlich obligaten Termin für die  Stadtmusik, dem „Kuhreihen“, nicht Hunderte von Besuchern in die Stadt ziehen.

Zitat:

„Noch ist die neue Corona Verordnung des Landes Baden-Württemberg nicht veröffentlicht. Wir hoffen aber, dass wir baldmöglichst eine Entscheidung kommunizieren können.“

 Matthias Jendryschik Leiter Stabsstelle Stadtmarketing WTVS GmbH

Das Motiv griff  Enkel Richard Ackermann 1939 wieder auf und inszenierte einen Villinger Herter zwischen  Stadttor und Vor-Tor.

Für die Altvorderern begann der Weg des zelebrierten Kuhreihens einst am Friedhof zum Gedenken an die Verstorbenen, dann zog man zu den Wohnadressen der früheren  Villinger Herter-Familien.

Noch bis Ende der 1970er wurden die Bläser des Herterhorns von Station zu Station chauffiert: damals waren dabei Fritz Rösch sen. und später Sohn Fritz jun., die bei den Familien Görlacher, beim Maler Leute, beim Spielwaren Flaig, bei den Seemanns, den Röschs und den Kornwachsens spielten.

Zum Abschluss fand man sich bis 1972 bei OB Severin Kern im Kurgebiet ein, bis Anfang der 1980er auch diese Tour eingestellt wurde.

Historisch gilt, dass einst alle Hirten mit einem einfachen Instrument aus Holz, ihre Tiere, die Ziegen, Schweine und auch die Gänse, mit jeweils eigenem Horn-Ruf sammelten.

Die Kuhhirten mit ihrem Herterhorn, die Geiß-Hirten mit dem halblangem Blechhorn, die Sauhirten mit einem Kuh-Horn mit Mundstück und die Herter-Buben mit kurzem Blechhorn.

So die Erinnerungen von Josef Liebermann, die er 1953 mit „Vom Kuhreihen“ niederschrieb.

Die eigentliche Tradition des Weihnachts-Blasens geht jedoch zurück auf die Errettung von einer großen Viehseuche 1765, als „die Viehbestände noch den lebenden Besitz darstellten, der eingebettet war in die Gläubigkeit und das Vertrauen zu Gott“ (Liebermann).

Den Villinger Stadtwächter mit Hellebarde malte einst Dominik Ackermann der Jüngere.

Das originale Herterhorn des letzten städtischen Viehhirten und Herters Nikolaus Seemann liegt heute im Museum. Seemann starb 1847

Heiter bis peinlich….

Eigentlich ist der Kuhreihen eine ganz heimelige, weil traditionelle und ortsgebundene Geschichte.  Doch kam es auch schon mal vor, dass sich jemand einen „faux-pas“ leistete, wie er einst dem frühere Leiter des Villinger Verkehrsamtes Ulrich Schlichthärle gelang.

Ihm war in der werbenden Einladung an die Weihnachts-Touristen in Villingen ein Schreibfehler unterlaufen, der da ganz zweifelhaft klang: „Kuhreinblasen“…

Da schmunzelten nicht nur die Villinger.

Mit dem „reinblasen“ hatte auch ein anderer 2010 ein Problem. Jörg Iwer, einst Dirigent des Sinfonieorchesters VS, hatte sich angeboten, das schwierige Instrument des Herterhorns zu spielen und in die Kleidung des Hirten zu schlüpfen.

Doch nicht nur, dass es an Heilig-Abend 2010 recht kalt war. Iwer hatte an diesem Abend auch nicht den rechten Lippen-Ansatz, weshalb er nach den ersten verqueren Tönen aufgab und sich ganz schnell der eigentliche Bläser zurecht fand.

Iwer hatte sich damals ge-outet, dass er gerne auch Naturinstrumente, wie das Alphorn blase, doch konnte er sein Versprechen und die „große Herausforderung“ am Amtsgericht nicht einlösen.

Galt der Kuhreihen über viele Jahre und Jahrzehnte als eine stille und andächtige Veranstaltung, war einige Mal zu bedauern, dass das Ereignis zum „Event“ wurde, weil gleich daneben Glühwein angeboten wurde und unruhige Zeitgeister kaum mehr den Weihnachtsgruß des Oberbürgermeisters abwarten wollten.

In 2020 könnte der traditionelle Kuhreihen jedoch auch für Jüngere nicht zum anschließenden Meeting mit Freunden werden, denn auch die über viele Jahre gültige Gunst entfällt, sich nach Mitternacht in der  Gastronomie zu treffen.

Wie immer man den traditionellen Abend samt Kuhreihen sehen mag, Glühwein und Punsch passen eher nicht dazu, auch wenn schon mal Ehrenamtliche ihren Ausschank nutzten, um über die Aids-Hilfe zu informieren.

Was also in 2020 in Reminiszenz bleibt, ist ein Kuhreihen als eindrucksvoller Weihnachts-Brauch in der alten Stadt, den die Stadtmusiker  bereits seit 1862 zelebrieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

4 Gedanken zu „Kuhreihen 2020 – Lokales Phänomen und traditionelles Ritual“

  1. Toller Bericht mit vielen Neuigkeiten, die mir bisher so nicht bekannt waren.
    Wede dies an meinen Bruder Benedikt weiterleiten,
    welcher sich immer für die Geschichte von Villingen interessiert hat.
    Übrigens: auf Youtube findet man auch eine alte Version des „Kuhreigenblasens“.

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  2. Vielen Dank für Ihren sehr guten Bericht und die eindringlichen, wohlgewählten Worte.
    Das ist ganz im Sinne meines verstorbenen Vaters,
    der die aufklappbare Schallplatte von 1982 graphisch und textlich gestaltet hatte.
    Damals wie heute habe ich mitgespielt / spiele ich noch immer mit.
    Hoffen wir, daß es 2021 wieder so sein wird.

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    • Ich bin als Autor verblüfft, denn ich bin dort groß geworden,
      wo dein (mit Verlaub) Opa Paul Kapp unser „Hausmeister“ am „Westbahnhof in der Goethestraße“ war,
      mit dem ich als junger Bub oft in den Wald ging, um Holz zu machen,
      und der mir den Umgang mit der Axt und dem Dexner zeigte…
      Klar also auch, dass ich auch den Gerhard und die Lieselotte kannte.

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