Villingen 1871 – Zwischen Siegestaumel und reformierter Volksbank

Villingen vor 150 Jahren – Als das Gestern heute war

Es war die neue Gemeindeordnung für Baden, die noch im Dezember 1870 erfordert hatte,
dass allerorten die Bürgermeister neu zu wählen seien.
Das nun war überraschend, denn noch im Oktober 1869 folgte Julius Schupp, Kaufmann und Teilhaber an der örtlichen Watte-Fabrik, auf  Rechtsanwalt Wittum, der die Stadt von 1835 bis 1847 und noch einmal ab 1859 geführt hatte. Eine erneute Kandidatur kam für Wittum jedoch nicht infrage, weil man ihn nicht pensionsberechtigt stellen  wollte.

 

So kam Fabrikant Julius Schupp also Ende November 1868 ohne Gegenkandidat zunächst für zwei Jahre ins Amt. Schupp wurde dann aber herausgefordert vom Chorregenten Schleicher, der jedoch als „erklärter Republikaner“ von 557 Wählern nur 165 Stimmen erhielt.  Noch 1849 von der Revolutions-Herrschaft als Bürgermeister eingesetzt, musst Schleicher als „Revoluzzer“ jedoch alsbald fliehen und konnte erst nach einer Amnestie für politische Flüchtlinge aus dem Ausland zurückkehren.

Zungenbrecher seit 1870/71 und für viele Schülerjahrgänge nach 1900:

„Hinter Hermann Höhlers Hus hät  mer  hundert Hase here huschte!“

Mitglieder im neuen Gemeinderat wurden Ferdinand Weisshaar, Eisenhändler; Jakob Zech, Spitalmeister, Ferdinand Stocker, Kaufmann; Weinhändler Maurer; Xaver Rieger, Schreiner; Rudolf Kienzler, Weinhändler; Alt Bürgermeister Wittum;  Engelwirt Faller und Fabrikant Kölreuter.

Dieses Gremium und der Bürgerausschuss bewilligten zunächst eine Kreditaufnahme, um die Stadt-Brunnen zu verbessern, und veränderten die Satzung für die ‚Krankenanstalt‘, eine der Spital-Abteilungen.

Der noch immer wirkende Kriegszustand mit Frankreich lähmte jedoch weitere besondere Gemeindeaufgaben, so kümmerte man sich in erster Linie um die Aufsicht und die Verwaltung des Getreidehandels in der Kornhalle, dem früheren Spital-Gebäude, das mit seinen beiden Durchfahrten von der Rietstraße zum Münsterplatz bis in die Neuzeit als „Altes Kaufhaus“ galt (heute Broghammer und Osiander). Seit Jahrzehnten bestimmte dieser Ort das gesamte Villinger Geschäftsleben als Wirtschaftsfaktor.

In 1871 regte sich auch der Plan, eine eigene Gasanstalt  zu schaffen, wie eine solche andernorts schon die begehrte Energie erbrachte. An die Bürgerschule mit ihren vier Klassen und 73 Schülern kamen als neue Lehrkräfte Professor Rüdinger und Theodor Göth, als Gewerbe- und  Zeichenlehrer und als Modelleur.

Früh im Jahre 1871 bewegte der „günstige Verlauf des Krieges“ die Villinger, weshalb man auf die Kapitulation in Paris, die Kaiser-Proklamation und das neue Deutsche Reich einen Zapfenstreich mit Fackelzug und Bankett feierte.

Auf den Abschluss der  Friedensverhandlungen im März findet eine Straßenkundgebung mit Umzug unter „Vorantritt der Feuerwehr“, wonach auf dem Marktplatz  Kommandant Dominik Ackermann die Schlussrede hält.

Wenige Wochen später das zweite Fest im „Paradies“, als die ersten, „von der Fahne entlassenen Kriegsteilnehmer“ heimkehrten, zu deren Ehren der Rechtspraktikant und Altersgenosse Uibel in einer Ansprache auch der sechs Gefallen gedachte, die in französischer Erde ruhten.

Die große Siegesfeier fand alsdann in der Huberschen Restauration (später Tonhalle) statt, bei der Michael Lion, jüdischer Mitbürger, Sanitätssoldat und geachteter Kleiderhändler den Reigen der Festansprachen abschließt.

Derweil initiierte Oberamtmann Baader einen „Bezirks-Invalidenverein“, aus dessen Einnahmen auch Hinterbliebene unterstütz werden sollten.

Für Baden und dessen Anschluss an das neue Deutschen Reich gab es  markante Neuerungen, die badischen Briefmarken verschwinden und statt der bisherigen Maße galten Meter und Pfund, wozu gar Kurse und Vorträge gehalten wurden. Zum Aufreger für die Bevölkerung wurde der höhere Milchpreis von 6 auf 8 Kreuzer, doch die Idee eines Verein der Milchabnehmer fand wenig Anhänger.

Von Interesse war eher, dass „Der Anzeiger für den Schwarzwald“ des Lithografen Eisele eingestellt wurde, dass Apotheker Kirsner sich als Landtagsabgeordneter für den ersten Reichstag gegen den Fürsten Karl Egon behauptete, der nur ein Viertel der Stimmen bekam, und dass schließlich Alt-Bürgermeister Wittum Landtagsabgeordneter wurde, weil Baurat Robert Gerwig es ablehnte, eine Wahl seiner Person anzunehmen und Dominik Ackermann als dritter National-Liberaler Wittum unterlag .

Derweil klagte die Uhrenindustrie über schlechten Geschäftsgang, was man dem Preisdruck zuschrieb, der durch die Konkurrenz aus Schramberg auftrat, wo man „Amerikaner-Uhren“ nachbaute, die günstiger waren als die bisherigen  traditionellen Uhren mit Massivwerk. Grund genug dafür, auch kein Uhrenfest zu 200 Jahre Uhrmacherei im Schwarzwald finanzieren und feiern zu wollen. Einzig am Hauptort des Schwarzwälder Orchestrion-Baus in Unterkirnach sieht man bei Eduard Blessing verbesserte Aussichten.

Betroffen vom neuen Reichsgesetzt für Genossenschaften war 1871 auch der Vorschussverein aus1968. Eine neue Satzung musste geschaffen werden,  auf die auch das Personal im wechselte: Vorstand wurde der Rechnungssteller Uibel, Oberamtmann Baader wurde von seinem Kollegen Fuchs abgelöst und Kaufmann Killy wurde Kassier. Dazu hieß es begleitend im Jahresbericht, „dass der Verein aus dem bescheidenen Kramladen der Selbsthilfe eines engen Kreises in das Comptoir der eigentlichen Volksbank getreten ist.“

Im Geldgeschäft war auch Carl Otto eingestiegen, der bislang eine Wollstrickerei betrieb. Er empfahl sich, bankmäßige Geschäfte zu besorgen und  Wechsel anzukaufen.

Und auch im Handel war Bewegung Gustav Killy hatte an Stelle des „Alter Adler“  an der Niederen Straße einen  Neubau für Eisen und Glaswaren sowie für Spezereien und Tabak, während seine Mutter Klara weiterhin am Marktplatz mit Seilerwaren handelt. Als Handwerker und Händler waren vor Ort der Uhrmacher Fleig (später Blumenstock), im Hause Sedelmeier gegenüber bot Ludwig Klopfer Waren aus Wolle und Baumwolle an, Anna Limberger übernimmt von den Eltern den Handel  mit Schnaps und Branntweinen bei der Weinhandlung Kienzler am Oberen Tor und Michael Lion wechselt vom Nebenzimmer „Falken“ ins Haus Stöhr neben der „Lilie“.

Während Johann Wieland seinen  Viktualienhandel  aus freier Entscheidung aufgibt, geriet Hermann Höhler mit seiner Buchhandlung „in Gant“, was später Konkurs oder zur Insolvenz genannt wurde.

Im Lauf des Jahres „etablierten“ sich 1871einige Kriegsheimkehrer mit ihrem erlernten Handwerk: die Sattler Ludwig Held und August Neukum, die Schuhmacher Mathias Maier und Ferdinand Bob, Glaser August Ummenhofer, „Chirurg“ Ludwig Häsler, Maler Karl Ruf, die Schreiner Baptist Engesser und Karl Hog, Schneider Johann Schopfer, die Bäcker Marzell Obergfell und Hermann Fischer und am Kalkofen eröffnet Johann Andre eine Ziegelhütte. Und während Doktor Holzhauer als neuer praktischer Arzt statt des verstorbenen  Heinrich Glänz wirkt, ehemals Feldarzt beim Leibdragoner-Regiment, inserieren die „Villinger Chirurgie“ Martin Hirt, Leopold Seyfried, Achilles Leuther,  Ludwig Hässler und Fridolin Diestel, dass  nunmehr das Rasieren bei ihnen 3 Kreuzer und das Haarschneiden 6 Kreuzer koste.

Eine Zeit, in der Villingen einen abnehmenden Reiseverkehr mit der Postkutsche verspürt, was sich bei den renommierten Gastwirten bemerkbar macht: der „Hecht“ ehemals vornehmstes Absteigequartier schließt, Wirt Dietsche verkauft und wird Salzhändler, Schupps „Bären“ wird verpachtet und Otto Fleig übernimmt den „Hohenstein“. Das „Schlössle“ kommt bei 6000 Gulden unter den Hammer und die „Lilie“ des verstorbenen Xaver Oberle wird für 16000 verkauft.

Von höchstem Interesse ist jedoch der Kauf der ehemaligen „Komturei“ des Johanniterklosters durch die Stadt, wovon Teile später zum Bezirksamt am Oberen Tor werden.

Was den Eigentümer- und Besitzerwechsel in der Stadt angeht, ein bewegtes Jahr 1871: 20 Ganten als Konkursverfahren und jede Menge Liegenschafts-Zwangs-Vollstreckungen, und das alles ohne Schutzgesetze, um „Besitzverschleuderungen“ zu verhindern.

 

Wichtige Männer in Villingen in den 1870ern: Rechtsanwalt Wittum und Watte-Fabrikant Schupp. ZU großenm Ereignissen trugen die Bürgermeister die Amtskette aus 1630.

Wichtiges Haus am Platze: das Alte Kaufhaus in der Rietstraße, das dereinst als Spital und als Feuerwehrhaus diente.

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