Vom Gasmonopol und den Mistfinkenhanseln
Man schreibt den 18. Oktober des Jahres 1874, als sich die kommunalen Schatten lichteten, die die gesamte Gemeindepolitik in diesem Jahr belasteten. Voller Zweifel überschattet von dem für jene Zeit bedeutenden Unterfangen, eine Gasfabrik zu erstellen.
Eine Aufgabe, die so bedeutend und aufwändig erschien, dass die Gemeindeverwaltung es nicht wagt, Bau und Betrieb eines solchen Unternehmens in die eigene Hand zu nehmen.
Viel eher geht man mit der Stuttgarter Gas- und Wasserleitungsgesellschaft einen Vertrag ein, wonach diese das Werk erstellt und dafür den Betrieb wirtschaftlich auf 30 Jahre auswerten darf.
Am 18. Oktober 1874 erhellten sich also zum ersten Mal Villingens Straßen des Nachts
in Gasbeleuchtung und das alte Rathaus, ein Bauzeugnis aus der Blütezeit der Zünfte,
zeigte markant seine Giebelkonturen über zahlreiche Gasflämmchen zu Ehren
dieses Ereignisses.
In einem Zeitungsartikel, wohl aus der Feder des damaligen Gewerbe- und Zeichenlehrers Theodor Göth, wird die energetische Neuerung begeistert begrüßt.
Doch der als Stadtkritiker bekannte Göth unterlässt es nicht, den fortschrittlich langsameren in der Bevölkerung einen verbalen Hieb zu versetzen: „… möge dieser Fortschritt als ein Licht zu weiteren Erleuchtung des gesamten hiesigen Publikums gelten.“
Weit zuvor hatte der Bürgerausschuss entschieden, das notwendige Gelände für die Gasfabrik den Investoren zu überlassen.
Verbunden mit der Konsequenz, den Einfluss auf Qualität und Preises des Gases aufzugeben.
So begann der Bau im Frühjahr und nahm im Oktober ’74 seinen Betrieb auf.
Der lokale Monopolist versäumte bis dahin nicht, die Bevölkerung über die Nützlichkeit und die zweckmäßige Behandlung des neuen Betriebsstoffes durch besondere Verträge zu unterrichten.
Nachdem Villingen über 500 Jahre ein Gymnasium besessen hatte und seit der Säkularisation nur über eine kümmerliche Mittelschule verfügte, ging es 1874 einen Schritt weiter, den Bildungsschaden wieder gutzumachen.
Im September 1874 bewilligt der Bürgerausschuss die Mittel, die fünf-klassige Bürgerschule in ein sechs-klassiges Realgymnasium umzuwandeln. Unentschlossen und zögerlich erwägend zeigte sich die Ortsverwaltung auch bei der Frage, ob man nicht doch den Verlauf der Brigach korrigieren solle, die sich „wie durch einen Urwald um die Stadt herum schlängelt“.
Da jedoch die Forstaufsichtsbehörde einen außerordentlichen Holzhieb ablehnte, um den finanziellen Aufwand zu decken, verlor man sich darin, ob stattdessen ein Kredit über 150 000 Gulden aufzunehmen sei.
Doch die „ewig gestrigen Anhänger der bislang bestehenden Umlagefreiheit“ lehnen ab. Sie graben erneut die Frage aus, ob nicht doch ein Remontehof für die Aufzucht von Militär-Pferden die nötigen Erträge bringen könne. Damit könnte die Stadtkasse Zinsen und Tilgung der neuen Anleihe decken.
Doch woher sollten die Bürger eine Umlage bedienen, las man in der Zeitung, da man doch den Zünften schon deren Vermögen genommen habe, als man deren Existenz aufgehobenen hatte.
So die Haltung des „gmoa Ma“, um mit dem Schelle-Marti zu reden, weil es eben unter den Bürgern wider die Aristokraten im Rathaus stark rumorte, wo man dann doch zögert und man so dem Widerstand auswich.
Daran nun verstarb der Stadtrechner Stern wohl nicht, dessen freie Stelle, dotiert mit 1100.Gulden, dem Rechnungssteller und Leiter des Vorschussvereines Uibel übertragen wird.
Verbessert wird auf Drängen der Bevölkerung auch der Standort der Reichspost-Filiale, der ab dem l. Januar des Jahres ‘75 vom Bahnhof in die Niederestraße in das Haus Beha, früher Holtermann und heute Sutermeister wechselt.
Für die Erneuerungswahlen zum Reichstag tritt der bisherige Abgeordnete Kirsner aus Donaueschingen nicht mehr an, worauf mit 9824 Stimmen der Geheime Rat Robert von Mohl gewählt wurde; sein Gegenkandidat Distel, ein Wirt aus Singen, erhält 5490 Stimmen.
In der Folge sucht auch die Sozialdemokratische Partei erstmals in Villingen Fuß zu fassen, worauf am 11. Mai das hiesige Blatt schreibt: „Der erste sozialistische Wanderprediger, ein gewisser Schröder aus Konstanz, will in Villingen sprechen. Hoffentlich wird er kein Lokal dazu finden.“
Zu den Geschehnisse aller Art zählen ganz klar die Fastnacht – aufgeführt wird als Umzug „Wallensteins Lager“, ein imposantes Bild aus dem 30-jährigen Kriege.
Im Habitus des Kapuziners hatte dazu der Maler Otto Hässler über die Stadtpolitik gepredigt und darin dem Fortschrittsmann Göth die Leviten gelesen. Der nun protestiert tags darauf gegen eine solche Kapuzinerpredigt, deren Inhalt von verschiedener Mistfinkenhansel erfunden sei.
Eine solche Ehrkränkung der Narros führte zum Nachspiel und zur weiteren Erklärung Göth’s, dass er nicht alle Narros gemeint habe.
Doch sei er „immerhin der Meinung, dass mit dem Strählen Unfug getrieben würde, was der jüngeren Generation gelegen käme, Gemeinheiten zu verüben. Witz und Laune seien eben eine seltene Gabe, und Narros dieser Art seien zu allen Zeiten gefeiert worden.“
Der noch recht junge Kriegerverein hält in diesem Jahre seine Fahnenweihe ab. Festredner ist Dr. Holzhauer, für die Festdamen übergibt Fräulein Berthe Weisshaar die Fahne und Vorstand Michael Lion, einer der wenigen Juden in der Stadt, dankt den auswärtigen Vereinen für deren Teilnahme.
Im religiösen Leben ist 1874 auch ein Jahr der engagierten Altkatholiken, deren Bischof Reinkens aus Bonn auf seiner Missionsreise auch in Villingen übernachtet.
Warum in Villingen darauf nicht ausreichend reagiert wurde, fragt „Der Schwarzwälder“ und gibt als Antwort: „In Villingen herrscht ein bigotter Köhlerglaube der alles verdaut, anderseits herrscht bei der geistigen Schicht ein Indifferentismus- so dass man nur Pharisäer und Judazer unterscheiden kann. Auch ist nicht zu verkennen, dass die hiesige Geistlichkeit sehr nachgiebig ist“.
Im August finden große Manöver statt, während denen General Werder in der „Blume Post“ Quartier nimmt. Für die täglichen Konzerte der Militärmusik ist „die Einwohnerschaft des Lobes voll, weniger für die Einquartierung.“
Dagegen wird der Bürgerschaft wegen der Umstellung der Geldwährung von Gulden auf Mark allerlei Kopfzerbrechen zugemutet. Werden doch dazu in den Schreibwarenläden Umrechnungstabellen verkauft, und im Gasthaus „Schwert“ versammeln sich die Zego-Spieler unter der Tagesordnung „Festsetzung der Normung im Zegospiel nach der neuen Reichsmark.“
In der Industrie hält derweil die missliche Lage an: schlechter Absatz für Uhren und ein mieses Abschneiden der schwarzwälder Aussteller auf der Leipziger Frühjahrsmesse – so schlecht wie noch nie.
Bei der Orchestrion-Industrie jedoch weitere technische Fortschritte: Lorenz Weisser in Unterkirnach liefert ein Werk mit 34 Registern und 240 Clavis, Leo Schönstein in Villingen stellt Stück No. 54 als ein besonders schönes Werk für die Gewerbehalle in Triberg her.
Der Zugang im Handwerk ist 1874 nur von mäßigem Umfang: Barnabas Heller zeigt seine Schlosserwerkstatt in der Rosengasse an, Andreas Schneider bewirbt seine Glaserwerkstatt in der Goldgrubengasse hinter dem „Hirschen“, Ernst Hämmerle etabliert sich als Sattler und Tapezier, Erasmus Schäfer übernimmt das Fuhr- und Speditionsgeschäft des verstorbenen Josef Wehinger, J.N. Happle gründet in der Färberstraße eine Lithographie- und Steindruckerei und J. Brettschneider eine Buchdruckerei im Hause des Lithographen Eisele.
Brettschneider gibt mit nationalliberaler Tendenz auch die „Schwarzwäder Zeitung“ heraus, doch wie der frühere „Anzeiger für den Schwarzwald und die Baar“ ohne langen Bestand.
Karl Dorer, Seifensieder, wird dessen Betrieb im Riet und dem dortigen Elisabethenturm erlaubt und dem Apotheker L. Lutz genehmigt man eine Düngerfabrik mit Kesselhaus bei der Schleife, dem späteren „Waldblick“ und späteren Kurgarten-Restaurant, um dort Tierkadaver zu verwerten. Sattler Oberle übernimmt das Anwesen des verstorbenen J. Weisser in der Oberen Straße und Bildhauer G. Mathis zieht nach Freiburg. Fridolin Distel, bisher Friseur, zeigt an, dass er sich in der Zahntechnik ausgebildet habe und empfiehlt sich zur Behandlung bei „strengster Diskretion“.
Am 1.10. übergibt Ferdinand Förderer seine Buchdruckerei und den Verlag des „Schwarzwälder“ an den Rottweiler Buchdrucker Linsemann, der auch als Redakteur zeichnet.
Weil der Vorschussverein, die spätere Volksbank, in 1874 einige missliche Vorwürfe abwehren muss, kommt es zu mehreren Wechseln: Direktor Uibel wird neuer Stadtrechner, Kassier Killy gibt seine Stelle auf und Oberamtmann Siegel, der als Vorstandsmitglied zurückgetreten war, steht zur Wiederannahme des Amtes bereit.
Im Handel war derweil wenig Neues zu vermerken. Kaufmann Zapf gibt den Verkauf von Ellenwaren auf und Säckler Beha, in dessen Haus die Reichspost eingezogen ist, verkauft Pelzwaren und fertigt ausschließlich Lederhandschuhe.
In der „Lilie“ lassen sich vorübergehend drei ambulante Händler mit Strick- und Weißwaren nieder, die „mit großem Ausverkaufsgeschrei“ die ansässige Geschäftswelt beunruhigen.
Eine noch kleine jüdische Gemeinschaft wird inzwischen auch von Max und Samuel Schwab als Viehhändler bestimmt; sie geben Geschäftsfreunden bekannt, dass sie im „Hirschen“ logieren.
Wie in den Jahren zuvor sind auch 1874 zwanzig sogenannte ‚Ganten‘ oder auch Konkurse zu verzeichnen, währen in diesem Zusammenhang „die Kette der Zwangsversteigerungen von Liegenschaften nicht abricht
An bekannteren Personen verstarben Xaver Riegger, der Breitmüller und Gemeinderat, 66 Jahre; Josef Beck, Maler, 69 Jahre, Hermann Bracher, 30 Jahre, die Schlosser Jakob Gross und Baptist Kreuzer, der Spitalverwalter und Gemeinderat Jakob Zech, die Alt-Raben-Wirtin Agathe Faist, Fidel Georg Hirt, sowie Lukas Schilling, der Alt-Kronenwirt und der Uhrmacher Leo Schönstein.
Trotz aller Kritik, die damals von verschiedenen Seiten geübt wurde,
waren die Villinger ganz schön innovativ, so wie es heute heißt.
Es gab sogar eine Art Biogasanlage ( siehe Apotheker Lutz ).