Schäfflertanz und Ritterturnier – Tisch zum Glockenspiel im Rathaus München stammt vom Villinger Orchestrionbauer Wilhelm Schleicher
Gäbe es nicht leidenschaftliche Autoren und passionierte Geschichts- und Geschichten-Forscher, die sich auch mit der Historie der Arbeiterbewegung ab 1871 (s. Foto) und mit Anfängen von Handwerk und Industrie ab 1900 beschäftigt hätten, wäre der Villinger Wilhelm Schleicher wohl längst vergessen worden, nicht aber sein Werk für München.
Denn wer als Besucher in München weilt, dem bleibt ganz sicher der Marienplatz beim Rathaus nicht fremd, wenn täglich dreimal zur vollen Stunde, um 11, um 12 und um 17 Uhr Hunderte auf den Klang des Glockenspiels warten und vielfach Kameras und Smartphones die Spiel-Szenen am Turm einfangen. Dafür nun hat einer aus dem badischen Villingen für die Funktion des Spieltisches und damit für das Glockenspiel samt dessen bunten Figuren seine Fertigkeiten als gelernter Orchestrionbauer eingesetzt. Eine Tat, die wohl nur ganz wenigen bekannt ist, es ist doch auch schon 115 Jahre her, dass das technische Wunderwerk jener Zeit eingebaut wurde.
Info
Ein populäres Schauspiel mit Glockenschlag um 11 und 12 Uhr und von März bis Oktober auch um 17 Uhr begeistert tagtäglich aufs Neue Touristen und Passanten auf dem Münchner Marienplatz. Das Glockenspiel im Rathausturm stellt zwei „Events“ aus Münchens Stadtgeschichte dar: die Hochzeit von Herzog Wilhelm V. mit Renate von Lothringen im Februar 1568 und das begleitende Ritterturnier auf dem Marienplatz mit dem Sieg des bayerischen Ritters über seinen Gegner aus Lothringen. Darunter zeigt der Schäfflertanz wie sich nach einer schweren Pest-Epidemie die Fassmacher als Erste wieder auf die Straßen gewagt und getanzt haben, um der eingeschüchterten Bevölkerung deren Angst zu nehmen und sie zu erheitern.
Das Ganze kam für den Villinger Wilhelm Schleicher nicht von ungefähr. Als nach 1850 erste Ansätze einer frühen Industrie neue Impulse setzten, worauf sich das bisherige Handwerk der Uhrmacher im Schwarzwald nach und nach einstellte, wurden aus den bisherigen Werkstätten der „breiten Uhrmacherhandwerks neue Fabriken“.
Wurden im damaligen Handwerk aus Lehrlingen, die ihren Meistern oft Lehrgeld zu zahlen hatten, die späteren Gesellen, konnte man in den neuen Fabriken bei ersten Versuchen einer ergiebigen Arbeitsteilung gleich nach der Pflichtschule ohne Ausbildung als produktive Hilfskraft anfangen.
Einer, der mit speziellem Berufsabschluss später als Tüftler und „Probierer“ nebenbei auch auf eigene Rechnung an der häuslichen Drehbank arbeitete, war der gebürtige Villinger Wilhelm Schleicher (1875-1961).
Der Sohn des Malers Karl August Schleicher erlernte im nahen Unterkirnach den Beruf des Musikwerk-Mechanikers und des Orchestrion-Bauers.
Nach seiner Lehrzeit bei der Orchestrion-Fabrik Dold bis um 1893 und nach weiterer Berufserfahrung beim Orchestrionbauer Hirt in Villingen zog es Schleicher zunächst in die Schweiz, von wo er jedoch nach wenigen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte und er für Josef Stern arbeitete.
Der nun galt mit der Herstellung seiner Orchestrions aus Villingen/Baden als wahrer Künstler, was 1906 wohl auch die Münchener Glockengießer Oberascher erfahren hatte, die jedoch selbst keine Erfahrungen mit Glockenspielen hatten.
Ihr hatte die Stadt München Anfang 1900 den Auftrag erteilt, 43 Glocken für das Glockenspiel im neuen Rathaus zu gießen. Bereits die Glocken der Frauenkirche und des Alten Peter hatte man bei Oberascher gegossen.
Gleichzeitig sollte die Firma Mannhardt als königlich- bayerischer Hofturm-Uhrmacher den Mechanismus für das Glockenspiel herstellen.
Zwar konnte Oberascher die 43 Glocken für den geplanten Schäfflertanz und das Ritterturnier gießen (Schleicher erinnerte sich mit 80 Jahren in 1955 an 48 Glocken, worin er sich jedoch irrte), doch fehlte ihm eben dazu ein Meisterbetrieb im Musikwerkbau und für den erforderlichen Spieltisch.
Auf Anfrage der Münchner bei Josef Stern wollte dieser jedoch einen solch herausragenden Auftrag nicht annehmen, doch sein passionierter Mitarbeiter Wilhelm Schleicher erklärte statt seiner: „Wir machen das!“
Und so sorgte bereits 1908 das Ergebnis für Furore, als das riesige Spielwerk in Münchens Festhalle provisorisch vorgeführt wurde, wo zuvor das Deutsche Sängerfest stattfand und zeitgleich der Prinzregent von Bayern den Grundstein für das Deutsche Museum legte.
Es dauerte jedoch noch bis zum 18. Februar 1909, bis das Werk für die 43 Glocken auf dem Rathausturm „zur Zufriedenheit und mit Bewunderung aller“ als Meisterwerk erstmals öffentlich ablief, wofür sich mit Stolz auch Wilhelm Schleicher bei diesem Projekt als herausragender Tüftler und Feinmechaniker und als wahrer Meister bewiesen hatte.
Trotz allem wurde das neue Münchner Rathaus samt Glockenspiel jedoch heftig kritisiert.
Schon Monate vor der offiziellen Einweihung, nach zwei Wochen Probebetrieb während des Oktoberfestes, las man im Münchner Stadtanzeiger am 10. Oktober 1908 von technischen Probleme und verstimmten Glocken:
„Die Verkehrsstörungen auf dem Marienplatz haben seit der Inbetriebsetzung des Glockenspiels und des Figurenumlaufs auf dem Rathausturme täglich um die 11. Mittagstunde einen Umfang angenommen, der geradezu polizeiwidrig genannt werden muss. Es sind nicht bloß auswärtige Maulaffen, die während des Oktober-Festes die Passage auf der Südseite des Marienplatzes vollständig absperrten […] Man kann wirklich froh sein, dass der Zauber nicht richtig funktioniert, und derselbe wieder auf einige wer weiß wie viele Monate eingestellt wird. Blamiert hat sich unsere Stadt samt ihrem Glockengießer und dem Mechanikknaben bis auf die Knochen; man lasse jetzt Gras drüber wachsen und die ganze Pfuscherei lieber ganz entfernen. In der Zeit der hochmodernen Technik nicht einmal etwas fertigbringen, was früher simple Handwerker meisterhaft zu Stande gebracht, das genügt, um die fortgeschrittene Hohlköpfigkeit der Lokalfach-Menschheit im Allgemeinen zu konstatieren. Schade, jammerschade um das viele schöne Geld, das für die missglückte Spieldose auf dem Rathausturme verplempert worden ist!“
Auf die offizielle Vorstellung des Glockenspiels folgte am Faschingssonntag ein satirischer Artikel, der darin gipfelte, „dass das verstimmte Glockenspiel die Anwesenden zur schleunigen Flucht veranlasse.“
Das alles erfuhr Schleicher nach seiner Rückkehr wohl eher nicht. Denn weder er noch sein Chef Stern tauchten danach in der Münchner Herstellerliste auf.
So blieb Schleicher bis ins hohe Alter stets bodenständig, aber als Erfinder auch rastlos, obwohl ihm für seine Ideen meist die finanziellen Mittel fehlten und ihm deshalb seine weiteren Erfindungen von Geldgebern „abgeluchst“ wurden. Irgendwie habe dabei auch der ansässige Orchestrionbauer Schönstein am Villinger Heimatort Anteil gehabt.
Zu Schleichers 80. resümierte das Villinger Lokalblatt 1955:
„Wilhelm behielt stets seinen Humor, war seit seiner Jugend begeisterter Turner, obwohl von den Kanzeln gegen die Leibesübungen gewettert wurde. Er war auch 30 Jahre Mitglied der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr und „Mitgründer“ der neuen alt-historischen Narrozunft, für die er talentiert Festzüge arrangierte.“
Somit folgte Schleicher als Tüftler und Feinmechaniker den einstigen Uhrmachern des Schwarzwaldes, wurde ein Villinger des Handwerks, des Könnens und des Ehrenamtes, dessen Kunst den Weg vom Orchestrionbau zur späteren Radio-Fabrikation (bei Saba?) führte.