Villingen: Vor 150 Jahren provinziell trotz Industrie – Schwenningen stark sozialdemokratisch orientiert
„Diese Stadt besitzt Charakter und Rasse, denn eine vielhundertjährige Geschichte hat ihr einen unvergänglichen Stempel aufgedrückt“. Der Leser stutzt. Doch 1907 schrieb dies das „Schaffhauser Intelligenzblatt“ anlässlich der Gewerbe- und Industrieausstellung 1907. Und ein Adolf Arnold reimte auf deren Ende im Regional-Blatt „Der Schwarzwälder“: „Alljährlich mögest du Tausende entzücken, du alte Schöne, waldesgrün-umfasst. In deiner Chronik steht wohl eingeschrieben in goldenen Lettern Neunzehnhundert-sieben.“
Ein Jahr, in dem auch Schwenningen im Dezember zur Stadterhoben wurde. Während das großzügige Haufendorf dem Wunsch nach Baustruktur für die industriellen Bedürfnisse entsprach, stand diesem Bedarf für Villingen das geschlossene, mittelalterliche Stadtbild entgegen und verhinderte vorerst dessen städtisches Wachstum.
So entstanden kleine Fabriken zunächst an der Brigach und an den Mühlen-Kanälen von West nach Ost. In der Folge wurde der Wohnraum für die Arbeiter knapp, weshalb man einige Ställe in den Gassen aufgab und zu Wohnzwecken umbaute. Doch trotz des Anschlusses an die Bahn ab 1869 blieb Villingen ländlich-dörflich und provinziell.
Kein Wunder, dass bei bitterer Armut zahlreiche Bewohner, die ohne Bürgerstatus oft als Taglöhner arbeiteten, den Antrag stellten, sie bei der geplanten Auswanderung nach Amerika finanziell zu unterstützen.
Kaspar Seemann schrieb damals, dass sein Vater ihn keine Profession konnte lernen lassen, bis er mit 16 Jahren als Viehhüter von seinem jüngeren Bruder abgelöst wurde und er nur noch zum Holz machen gebraucht wurde.
Da er somit eine Familie nicht werde ernähren können, verweigere man ihm das angeborene Bürgerrecht, weshalb er bei gesundem und kräftigem Körperbau bei noch fehlenden 50 Gulden lieber in Amerika ein besseres Unterkommen finde.
Während die einen in ihrer Not ab den 1850er Jahren auswanderten, lockte die aufkeimende Industrie in Schwenningen zahlreiche Männer als Arbeitssuchende aus den nahen Schwarzwalddörfern.
Die Uhrmacherei war ab 1875 zum handwerklichen Erwerbsleben geworden, und so gab es schließlich auch in Villingen 24 Groß-Uhr-Macher mit bis zu 400 Personen in allen Fabriken. Mancher scheute sich jedoch, bloß als Fabrikarbeiter zu gelten, weil es als besser galt, selbständiger Gewerbetreibender zu sein oder aber in Zuversicht auf den Fremdenverkehr zu schielen, als 1888 der Aussichtsturm auf der Wanne, das Waldhotel am Germanswald und das Kirnacher Bahnhöfle am Germanswald (Abb.) errichtet wurden.
In jenen Jahren waren die ersten Fabrikanten wohl mit ihrem Auskommen zufrieden, doch wohlhabender waren eher die Kaufleute des Handels oder die Wirtsleute. Da nun die Wähler nach Vermögens- und Steuerzahler-Klassen mit drei, zwei und nur einer Stimme die Abgeordneten bestimmten, gehörten Weinhändler, Fabrikanten, Gastwirte, Bäcker und Metzger zur ersten Vermögensklasse. Mit diesem ungleichen Einfluss musst es zu „empfindlichen Störungen des Sozialgefüges“ kommen und der Spaltung in Unternehmer und Lohn-Abhängige.
Weil jedoch mancher Firmengründer als Kaufmann versagte, kam es öfters zum „Gant“, was der heutigen Insolvenz entspricht. Arbeitslose waren in der Folge gezwungen „auf den Bettel zu gehen“.
Da die Produktionsmengen mit zunehmender Technik zu einem Überangebot führten, konzentrierten sich Unternehmen, drückten die Löhne und die Armut nahm zu.
Gleichzeitig wurde das Arbeitsleben durch die Technik der schnelleren Maschinen in den Fabriken gefährlicher, was jedoch die amtliche Gewerbeaufsicht nicht verhindern oder ändern konnte.
Sanitäre Einrichtungen waren lausig schlecht, Arbeitsunfälle häuften sich, die jedoch als schicksalhaft galten. Man suchte gar nach Fehlverhalten der Arbeiter und strafte mit Lohnabzügen. Wer überleben wollte, musste zusätzlich Heimarbeit machen.
Rechtlich galt für die Beschäftigungen zwar eine Gewerbeordnung samt Arbeitsordnung, doch selbst eine nur bedingte Mitbestimmung war den Arbeitnehmern nicht gegeben. So musste man sich gehörig was trauen, um sich wegen Ausbeutung beim Bezirksamt und dem Landeskommissionär zu beschweren.
Durch Bismarcks Sozialgesetzgebung wurde zwar 1884 eine Kranken-Versicherung zur Pflicht, doch hielt man vor Ort eine Unterstützungs- oder Hilfskasse für geeigneter.
So fand bereits 1883 im Villinger Gasthaus „Felsen“, dem Union-Kino nach 1945, die zweite Sitzung der Lahrer Filiale der Hamburger Tischler-Unterstützungskasse statt, was als Einstieg in eine „sozialistische Organisation“ galt, während der lokale „Katholische Gesellenverein“, mit späterem Sitz im „Engel“ am Riettor, das bislang ungesicherte Arbeitsleben und die Folgen für Witwen und Waisen ebenfalls zu mildern suchte.
Das seit 1878 geltende Sozialistengesetz im Reich verursachte damals wohl auch Zweifel an einem staatlichen Versicherungszwang.
Eine Zeit, in der das politische Leben von der Partei der National-Liberalen und dem christlich-katholischen Zentrum bestimmt war, jeweils redaktionell unterstützt von „Der Schwarzwälder“ und dem „Villinger Volksblatt“.
In Villingen erstarkte das „Zentrum“ als attraktive Partei wegen dessen Arbeitsthemen, auch wenn das Wahlrecht weiterhin an das Bürgerrecht geknüpft war. was die Reichen wegen deren Steuerzahlungen begünstigte und die Handwerker abwerte.
Da behördlich erkennbar war, dass sich Arbeiter solidarisieren und organisierten, wurden sie schon vor dem Sozialistengesetz (1878-1890) überwacht, was selbst für den Villinger Gesellenverein galt. Denn es war namentlich ein Arbeitsbuch zur beruflichen Identität zu führen. Auf diese Weise wurden die ersten lokalen Sozialdemokraten schon 1883 aktenkundig.
Noch ohne dass eine sozialdemokratische Partei organisiert war, geriet auch ein „gewisser Lutz, ein verdorbener Apotheker“ ins Visier. Seine Arbeiter in dessen Knochenmehl-Fabrik und einige andere galten als „der Sozialdemokratie zugetan“.
Der bezirks-amtliche Visitor blieb jedoch im Zweifel um deren sozialistische Agitation oder gar über Zusammenkünfte von Parteigenossen.
Ihm fielen jedoch auf, dass 14 Exemplare der „Süddeutschen Post“ an einen Arbeiter adressiert waren, der Exemplare auch an Sozialdemokraten in Schwenningen verteilt hatte.
Des Weiteren wurde in der nahen Schweiz „Der Sozialdemokrat“ gedruckt und hierher geschmuggelt und als „rote Feldpost“ in einem Koffer als Kleidersendung deklariert.
Und auch Louis Lutz, Jahrgang 1843, fiel politisch erneut auf. Er und die Uhrmacher Mauthe und Wößner, die Maler Baumann und Bob sowie der Bildhauer Mog waren im Ausschuss und im Vorstand der Hilfskasse, auch wenn diese nicht amtlich „verfolgt“ wurde.
Carl Ludwig „Louis“ Friedrich Lutz, Apotheker aus Neuenburg, hatte 1868 um das Bürgerrecht in Villingen nachgesucht. Er heiratete Emma Schleicher und kaufte von Johann Baptist Schrenk dessen Schmiede „Oberer Hammer“ beim heutigen Villinger Kurpark, um dort Düngemittel zu produzieren.
Emma war die Tochter des 1848-er-Revolutionärs Johann Evangelist Schleicher, der 1850 wegen Hochverrats zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Doch Schleicher entzog sich einer Verhaftung und flüchtete bis zur späteren Amnestie für drei Jahre nach Amerika.
Schleicher, zurück in den Armen seiner Frau, der Tochter des Stärke-Fabrikanten Schrenk, wurde nach seiner Rückkunft erneut populär, unterlag zwar als Kandidat gegen Schupp bei der Bürgermeisterwahl 1870, doch wurde er 1870 und 1883 Gemeinderat.
Und Lutz kam wieder in Verdacht, weil Lutzens Anwesen nahe der Hammer-Kapelle am heutigen Villinger Kurgarten (Bild) als Umschlagplatz für sozial-demokratische Zeitungen galt, die – der lokalen Überlieferung nach – hinter dem Altar der Kapelle versteckt worden sei.
Dieser Umtriebe wegen hatte der badische Landeskommissär für die Staatsanwaltschaft „genügend Überführungsmaterial“, ihn und Felix Meder in Konstanz vor Gericht zu stellen. Die Villinger hatte ihren Sozialisten-Prozess: Nicht der Besitz verbotener Zeitungen war strafbar, sondern der Vertrieb. Und beide hätten größere Sendungen als „Salz“ und „Leinwand“ deklariert, als vermeintliche Uhren-Teile umgepackt und bis Frankfurt und Nürnberg adressiert.
Lutz aber bestritt, Kenntnis über den Inhalt gehabt zu haben, wurde jedoch wegen Urkunden-Fälschung zu acht Monaten und drei Wochen Gefängnis verurteilt. Mitwisser Meder erhielt als „Verführter“ zwei Monate und eine Woche.
War auch bei Lutz kein „corpus delicti“ entdeckt worden und konnte der Staatsanwalt den vermeintlichen Inhalt der Sendung auch nicht beweisen, wurde das Urteil rechtskräftig.
So konnten trotz der gesetzlichen Restriktionen die Sozialisten bei der Reichstagswahl an Zustimmung gewinnen: 1887 erhielt ein Adolf Geck 99 Stimmen und 1890 bekam Kandidat Volderau bereist 330.
„Der Schwarzwälder“ notiert dazu ein „mächtiges Emporschnellen der sozialdemokratischen Stimmen.“
Somit war der Zweck des Sozialistengesetzes verfehlt worden, die Arbeiterbewegung ließ sich nicht aufhalten und auch nicht unterdrücken.
Noch während das Gesetz galt, wurde in Villingen im Sommer 1890 der Arbeiterverein „Vorwärts“ gegründet. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde zählte Louis Lutz.
Lutz, der Ende der 1880er Jahre häufig sozialdemokratische Funktionäre beherbergt hatte, mit dabei Carl Grillenberger aus Nürnberg, soll sich in der Folgezeit allerdings den Nationalliberalen genähert haben, weshalb man ihn aus dem sozialdemokratischen Verein in Villingen ausschloss.
Lutz kehrte daraufhin Villingen den Rücken, verkaufte seine Fabrik und zog nach Gernsbach, wo er die Düngemittelproduktion erneut aufnahm.
Politische Umtriebe blieben aber auch in Schwenningen nicht aus, die um 1888 mit Friedrich Fischer verbunden waren. Fand man bei ihm doch eine Spendenliste und ein Lieferverzeichnis für damals verbotene Zeitschriften“. Zu den populären Sympathisanten in Schwenningen zählte der Bäcker Johann Schlenker.
Ein Arbeiterverein wurde am 1. Januar 1889 gegründet, dessen erster Vorstand der „Grusenbeck“ Johann Sachlenker wurde. Zum politischen Treff wurde die „Blume“, die später zum Heimatmuseum am Muslenplatz wurde.
Schon wenige Tage später war Theodor Lutz, selbst auch Apotheker und Bruder des Louis, zu Gast. Er efhielt bei den folgenden Landtagswahlen 240 von 518 Stimmen, während es in Wellendingen 38, in Schömberg 36 und in Rottweil nur vier Stimmen waren.
Literatur:
Annemarie Conrad-Mach, Feinwerktechnik, Arbeitswelt-Arbeiterkultur, Beitrag zur Wirtschafts-und Sozialgeschichte in Villingen und Schwenningen vor 1914, Neckar-Verlag VS, ISBN §-7883-0845-1
Info zu Grillenberger:
Der in Zirndorf gebürtige Karl Grillenberger ging nach seiner Schlosserlehr mehrere Jahre auf Wanderschaft. Nach seiner Rückkehr arbeitete er in der Forchheimer Gasfabrik, trat 1869 der SDAP bei und bemühte sich ab 1874 um ein Reichstagsmandat.
1881 zog er als erster bayerischer Sozialdemokrat in den Reichstag ein, dem er bis zu seinem Tode angehörte. Ab 1893 war er gleichzeitig auch Mitglied des Bayerischen Landtages. Ab 1872 arbeitete er redaktionell an verschiedenen sozialdemokratischen Blättern in Nürnberg/Fürth mit und wurde 1874 Mitbegründer der Nürnberger Genossenschaftsdruckerei und Chefredakteur der “Fränkischen Tagespost” (früher “Nürnberg-Fürther Social-Demokrat”). Unter seiner Führung wurden die Sozialdemokraten Nürnbergs zur bestimmenden Kraft der bayerischen SPD.