Vom „Engel“ und dem katholischen Gesellenverein
Ein zunächst kleiner Betrieb in Villingen, dessen großer Nachfolger später als IBM Weltbedeutung bekommen sollte, hatte durch dessen Eigentümer schon Jahre zuvor eine besondere Technik in den USA entwickelt und wollte damit auch in Deutschland einen weiteren Markt erobern. Schon damals bot die hiesige Region dafür gute Voraussetzungen: beruflich geschultes Human-Kapital aus der Uhrenindustrie, günstige soziale Verhältnisse und genügend räumliches Potenzial.
Und wie die Annalen festhielten, war es „dem Entgegenkommen des Bürgermeisters in Villingen…zu danken, dass wir uns nicht für Württemberg entschlossen haben“, so die damalige TCM-Firmenleitung in Baden.
Bürgermeister Lehmann hatte wohl noch im Laufe des Jahres 1918 erkannt, dass auch das ‚Kriegsamt in Karlsruhe‘ sich nicht dagegen aussprechen werde, nachdem sich bereits viele Nutzer für das neue maschinelle Hollerith-System des Karten- und Datenlesens ihre Referenzen aussprachen.
Während einige Villinger Betriebe durch die Kriegswirren ab 1914 in Schieflage geraten waren, bedeutete „Hollerith“ in Villingen, dass Arbeitsplätzen trotz Kriegsschuld geschaffen würden und dies auch den Aufbruch für die Uhren- und Feinwerk-Industrie bedeuteten könnte. Getragen vom technologischen Anschluss an die internationale Entwicklung, die von den USA aus segensreich auf die Friedenswirtschaft wirken sollte.
Herman Hollerith, * 1860 in Buffalo, † 1929 in Washington D.C., war deutsch-amerikanischer Abstammung und wurde Ingenieur und Unternehmer. Er erfand das nach ihm benannten Hollerith-Lochkarten-Verfahren zur Datenverarbeitung. Sein Hollerith-System diente ursprünglich dazu, den Krankenstand in der Bevölkerung zu erfassen, um den ‚Wehrzustand‘ zu ermitteln. Sein System überzeugte auch das Zensus-Büro für die amerikanische Volkszählung 1890.
Statt deren sonstiger Auswertung in sieben Jahren, gelang dies nun in zwei Jahren mit 43 Maschinen und 500 Angestellten. Hollerith verkaufte jedoch seine Maschinen nicht, er vermietete sie, auch für eine Volkszählung in Russland.
Nach verbessertem System gründete Hollerith 1896 die TMC, die Tabulating Machine Company, doch wegen überzogener Preise verlor er 1905 den besten Kunden, das US-amerikanische Census-Bureau.
Um in Deutschland die Patente zu erhalten und den Vertrieb seiner Maschinen zu sichern, entsandte er den Ingenieur R. Williams 1910 nach Berlin, damit dieser eine Gesellschaft gründe,
Nachdem Hollerith 1911 seine Gesellschaft für rund 1,21 Millionen Dollar verkaufte, fusionierte die TMC zur CTR, der Computing Tabulating Recording Corporation. Weltbekannt wurde die CTR 1924, als man zu International Business Machines Corporation (IBM) umfirmierte.
Bis in die 1880er Jahre vermietet die TCM Zeit- und Kontroll-Apparate in den USA und verkauft dazu Lochkarten, was nach 1919 mit der Hollerith Villingen auch für eine Firma in Schwenningen zum Geschäft wurde.
Das Villinger Volksblatt schrieb im Dezember 1925:
„Im Schatten der wirtschaftlichen und sozialen Depressionen und der damit verbundenen politischen Instabilität macht sich ein Funken Optimismus breit: In unserer Schwarzwaldstadt haben wir ein leuchtendes Haus. Man kann nachts an ihm vorbeigehen, wann man will, das Haus ist beleuchtet. Es werden darin besondere Karten für Hollerith-Maschinen gedruckt, verwendet in den großen Industrien unseres deutschen Vaterlandes und weiter draußen in der Welt, um auf schnellstem Wege Licht und Aufklärung über im Dunkel gehüllte wichtige Fragen aller Art zu bringen. Das leuchtende Haus sendet seine hellen Strahlen ungeheuer weit.“
Und dies alles begann zu wesentlichen Teilen im ehemaligen Gasthaus „Engel“, das zuvor noch Vereinshaus des katholischen Gesellenvereins war.
Der Bau aus der Gründerzeit, heute noch mit auffälliger, denkmalgeschützter Fassade und Elementen des Jugendstils, einem attraktiven Wohn-Turm, wurde zwar vielfach umgebaut, doch prägt er noch heute das Gesicht der Weststadt.
Schon 1509 ist als Besitzer der Wirtschalt vor dem Riettor Michael Werkmeister, erwähnt. Spektakulär markiert das Ratsprotokoll zum 1. Dezember 1726 gar eine Schlägerei, in die der Engelwirt Josef Vetter verwickelt war.
Das Kataster der Brand-Versicherung von 1766 taxiert die „Württschaft zum Engel“ als „dreistöckiges steinernes Haus“, für das als Wirtshaus mehrfach Eigentümer, Pächter und Besitzer wechselten.
Mit dabei im Jahre 1847 ein Käufer namens Anton Faller, der das Anwesen 1890 dem katholischen Gesellenverein verkaufte. Dessen Mitglieder gründeten schließlich die „Aktiengesellschaft catholisches Vereinshaus.“
Der durch viele Bauten populäre Villinger Architekt Nägele plante 1905 einen Neubau, zu dem auch ein Saal gehörte. Darin sollten sowohl Theaterspiele der katholischen Vereine und Ausstellungen stattfinden, und um 1960 gar zum Ausweich-Sport-Quartier werden.
Letzteres statt der Turnhalle beim Benediktiner an der Kanzleigasse als „Jahn-Turnhalle“ für den Sportunterricht der Bubenschule und für den Kunstverein für dessen Jahres-Ausstellungen.
Im ursprünglichen Gastraum des „Engel“ habe lange Zeit ein Orchestrion die Gäste unterhalten. Doch schon am 1. November 1917 wurde die Gastronomie aufgegeben.
Ab 1918 dann – bis zum Ende der 1920er Jahre – gab die Deutsche Hollerith dem gesamten Komplex seinen Namen.
Der Grund für diese badische Niederlassung lag darin, dass die amerikanischen Scouts die Gaststätte „Engel“ mit Saal vor dem Riettor als Domizil entdeckt hatten, die schon 1744 ein französischer General mit seiner Entourage zum Quartier genommen hatte. Ein Anwesen, das als geeignetes Produktionsgebäude galt.
Noch bevor Hindenburg als Chef des Generalstabs die Kapitulation des I. Weltkrieges am 11. November 1918 unterschrieben hatte, erkundete also der Vertreter der Deutschen Hollerith-Maschinen-GmbH mit Stammsitz in Berlin das badische Villingen, bezieht in der Rietstraße 15 eine 6-Zimmer- Wohnung und kauft nach vier Wochen des Gasthauses „zum Engel“ für 10 000 Reichsmark.
Somit wurde das Unternehmen „Hollerith Villingen“ zur Vorgänger-Gesellschaft der IBM-Deutschland, doch schon 1929 wurde der Standort Villingen aufgegeben.
Ab den 1930er Jahren gehörte das Gebäude der Stadt Villingen, die als städtische Dienststellen auch das Bauamt dort unterbrachte.
Mancher Bürger der Jugend der 50er-Jahre erinnert sich, dass dort auch stets zum Spätherbst Reisig zum Abdecken der Gräber oder der heimischen Blumenbeete gegen geringe Gebührt geholt werden konnte.
Während der NS-Zeit wurde das Haus zur lokalen Verwaltung des Reichs-Arbeitsdienstes. Nach 1945 wurde es zur Unterkunft für Truppenteile der französischen Besatzungsmacht aus Nordafrika.
1985 verkaufte die Stadt „die Hollerith“ für 1,9 Millionen Mark an die Top-Bau. Um alle Fläche gewerblich und für Wohnungen mit 5.000 qm nutzen zu können, sei das Zehnfache an Investitionen veranschlagt worden, schrieb die Tageszeitung im Oktober 1984.
Die Top-Bau hatte nicht nur solvente Interessenten gefunden, sondern „sämtliche Bauabschnitte als architektonisches Nachschlagewerk unter Auflagen des Denkmalschutzes dokumentiert“, so 1996 das Immobilien-Panorama in Schwenningen. Damit wurde „die Hollerith“ für die TOP-Bau, für die Nutzer und für die ganze Stadt zu einem gelungenen Sanierungsobjekt.